Was im 19. Jahrhundert die Sexualität war, ist heute der Schmerz: Das vielleicht größte Tabu unserer Epoche.
Im viktorianischen Zeitalter waren die Badeanzüge so eine Art Ganzkörperkondom und man bedeckte sogar die Beine von Möbeln mit Stoff, um bei niemandem sexuelle Gefühle hervorzurufen.
Es galt die Auffassung, dass nur Männer ab und zu Sex brauchen, Frauen aber eigentlich gar nicht, so dass sie sich nur um ihrer Ehepflicht willen vielleicht einmal im halben Jahr »hingaben« (und beim Geschlechtsakt sollten sie »an England denken«).
Beim Schmerz ist es umgekehrt: Landläufig sind Männer der Auffassung, »ein Indianer« kenne keinen Schmerz (was überdies auch noch ein Relikt totalen kolonialen Bullshits ist).
Frauen hingegen haben Schmerzen, ja, aber dann steht ja Gottseidank eine Armee von Ärzten, Physiotherapeuten, Osteopathen und ein Arsenal an Schmerzmitteln zur Verfügung, um den Schmerz zu bekämpfen.
Und so wie im viktorianischen Zeitalter alles unternommen wurde, um die Sexualität zu beseitigen, unternehmen wir heute größte Anstrengungen, den Schmerz zu beseitigen.
Vermutlich wird es jetzt einen Aufschrei geben und ich höre schon die Rufe: »Hast Du überhaupt schonmal Schmerzen gehabt?« - »Das ist ein Schlag ins Gesicht aller chronischen Schmerzpatienten!« Usw.
Nein, es geht nicht darum, Leiden schönzureden (genauso wenig, wie jemand unter Sexualität leiden sollte ...). Es geht nur darum, dass die Tabuisierung von Schmerz, den Schmerz noch vergrößert. Und es geht darum, den Schmerz an sich wieder als einen fruchtbaren Teil des Lebens zu betrachten und einen »natürlichen« Umgang mit ihm zu finden.
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Pace e bene,
Br. Jan.
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